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Taschenbuch, 12 x 19 cm, 612 Seiten
ISBN 978-3-7482-9974-5
Hardcover, 12 x 19 cm, 612 Seiten
ISBN 978-3-7482-9974-2
E-Book
ISBN 978-3-7482-9976-9
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Leseprobe
Kapitel 1
„Wenn man den Sehern und Wahrsagern und all den anderen Scharlatanen Glauben schenken möchte, dann ist mein Untergang schon an dem Tag, an dem ich den Thron bestiegen habe, besiegelt worden.“, grunzte Vandan wütend.
Seine kräftigen Hände krallten sich um die Enden der kunstvoll gearbeiteten Armlehnen des soeben erwähnten Herrschersitzes – zwei prankenartig geformte Pfoten, beide aus kostbarem weil äußerst seltenem Filiandran-Holz. Der gesamte Thron war aus erlesensten, kostbarsten Hölzern gefertigt und die vielen darin verarbeiteten Sorten schimmerten unterschiedlich hell und matt im Schein der untergehenden Sonne, der jetzt durch das seitliche Fenster in den Saal hereinfiel.
Der muskelbepackte Vandan beugte sich zähneknirschend vor – was den nach wie vor erbötig gebeugt dastehenden, schon angegrauten Zederet dazu veranlasste, einen Schritt zurückzuweichen und den Kopf noch tiefer zu neigen, um so dem stechenden Blick seines cholerischen Herrschers auszuweichen.
„Finde sie! Finde vor allem endlich einen, der mir sagen kann, woher diese Bedrohung kommen und wie sie aussehen soll! Es muss ja wohl einen unter ihnen geben, der mehr kann als immer nur das zu stammeln, was all die anderen mir schon vorgestammelt haben! Wenn auch nur ein Fünkchen Wahrheit an dem ist, was sie behaupten, dann muss da mehr sein. Noch besser: Finde heraus, wer dieses Gerücht in die Welt gesetzt hat! Los, worauf wartest du noch? Bring mir Ergebnisse, und zwar bald, sonst lasse ich dich einen Kopf kürzer machen, verstanden? Und all die anderen Lügner lass in den Kerker werfen. Da können sie meinetwegen verrotten oder darauf warten, bis ich sie aus lauter Langeweile am Strick tanzen lasse, spätestens das wird sie dann mundtot machen.“
Zederet wankte unter mehrmaligen Verbeugungen rückwärts aus dem Saal und wischte sich, draußen im Vorraum angekommen, mit dem Ärmel den Angstschweiß von der Stirn. Es war schwer genug, die letzten Seher zu finden. Noch schwerer war es, einen zu finden, der nicht das herbetete, was alle anderen ebenfalls prophezeiten. Und es war so gut wie unmöglich, einen zu finden, der mehr wissen konnte als alle anderen! Er wagte ohnehin zu bezweifeln, dass nicht längst im Volk von dieser Vorhersage gemunkelt wurde. Es war zu spät, man konnte kaum das gesamte Volk einkerkern …
Sein Kopf saß nicht mehr sicher auf seinen Schultern!
*
Purrh, ein halbes Jahr später …
Er sah zu, wie sein Vater geduldig die Wunde oberhalb der Pfote des Hundes auswusch, sie sorgfältig kontrollierte und dann, nachdem er behutsam eine heilende Salbe aufgetragen hatte, einen kleinen Verband um das Bein wickelte und festknotete.
„Es ist nur ein Riss oder Schnitt und er geht nicht tief; es sah schlimmer aus als es ist. Achte darauf, dass er den Verband nicht herunterreißt und damit nicht ins Wasser geht. Wir kontrollieren es morgen wieder und in ein paar Tagen ist es schon vergessen.“, lächelte er und deutete ihm, das ohnehin schon zappelnde Fellknäuel auf den Boden zu lassen.
„Halte ihn am besten heute und morgen im Haus und binde ihm eine Schnur um den Hals, wenn er nach draußen muss.“, ergänzte er. Dann trug er die Schüssel mit dem Wasser sowie das kleine, scharfe Messerchen, mit dem er ein wenig von dem Fell um den Riss herum abrasiert hatte, zur Tür. Als die Geräusche mehrerer sich nähernder Pferde hörbar wurden, stellte er beides jedoch noch einmal ab und warf einen Blick aus dem Fenster.
Gehorsam hob er, Natian, den kleinen Hund auf den blank gescheuerten Holzboden hinunter und sah zu, wie dieser erst ein paar Schritte mit dem ungewohnten Verband tat und daran schnüffelte, dann aber schon abgelenkt war von irgendeinem Geruch, dem nachzugehen es sich offenbar eher lohnte.
„Ich glaube, ich habe einen Namen für ihn, Vater.“, lächelte er, als der vierbeinige Findling sich energisch unter die herabhängende Decke des Lagers kämpfte und nur einen Augenblick später triumphierend darunter hervorlugte.
„So? Welchen denn?“, fragte der Angesprochene ein wenig abwesend.
Noch immer sah sein Vater nach draußen und als er eine tiefe Falte zwischen dessen Augenbrauen bemerkte, erhob auch er sich und trat neben ihn, fühlte sofort eine Hand auf seiner Schulter.
„Bleib zurück, lass dich nicht sehen.“
Sechs Reiter auf müden, staubigen Pferden standen zwei Häuser weiter und einer von ihnen – der Anführer vermutlich – schien Kongar, ihrem Nachbarn, ein paar Fragen zu stellen. Offenbar war er aber nicht zufrieden mit den Antworten, die er erhielt, denn seine Stimme wurde lauter. Und auch wenn längst nicht jedes Wort zu verstehen war, glaubte er doch, den Namen seines Vaters herausgehört zu haben.
„Vater? Wer sind diese Männer? Weshalb fragen sie nach dir?“, fragte er leise.
„Ich weiß es nicht, aber ich ahne es. Es scheinen Männer von Vandans Hof zu sein. Siehst du die silbernen Abzeichen am Zaumzeug der Tiere und das Symbol in den Satteldecken? Unübersehbar … Was immer sie hier wollen, es kann nichts Gutes bedeuten.
Ich möchte, dass du nach oben gehst und dich nicht rührst. Und wenn ich sage, dass du dich nicht rühren sollst, dann meine ich, dass du keinen Mucks von dir gibst, verstanden? Egal was du hörst oder siehst, du rührst dich nicht vom Fleck!“
„Vater?“, tastete er besorgt nach dessen Hand.
„Schon gut, tu, was ich dir sage! Und was immer geschieht, ich werde immer bei dir sein!“, warf er ihm einen unergründlichen Blick zu, bevor er ihn unnachgiebig vom Fenster zurück und in Richtung Leiter schob.
„Was meinst du damit? Was …“
„Nicht jetzt, Natian, verschwinde, bevor dich jemand sieht! Es wird schon alles gut gehen, aber falls mir doch einmal etwas zustößt, heute oder irgendwann: Geh zu meiner Schwester nach Mest, aber vorher geh in den Keller und schau hinter den größten Stein an der hinteren Wand. Alles, was dahinter verborgen ist, gehört dir und wird dir helfen, Antworten zu finden. Falls ich sie dir nicht mehr geben kann … Und Natian? Ich liebe dich und ich bin stolz auf dich, vergiss das nie! Rauf jetzt, sie kommen! Nein, gehorche mir!“
Er zögerte. Zuletzt aber wartete er nicht länger, als er hörte, wie die Reiter sich wieder in Bewegung setzten. Doch er bog noch einmal ab und zog den kleinen Hund unter der Decke hervor, klemmte ihn unter den Arm und kletterte geschickt die wenigen Sprossen hinauf. Oben angelangt presste er oberhalb des Wohnraumes sein Gesicht auf den Boden, das rechte Auge so direkt an einen etwas breiteren Spalt im Boden bringend. Auf diese Weise würde ihm erfahrungsgemäß nichts von dem entgehen, was unten vor sich ging.
Sein Vater wartete nicht, bis sie an die Tür hämmerten. Er trat, die Schüssel in der Hand, in die offene Tür und kippte mit einem Schwung das schmutzige Wasser auf den staubigen Boden.
„Bist du Netrosh, der Seher?“, hörte er eine barsche, tiefe Stimme fragen.
„Wer will das wissen?“
„Ich, frag nicht so dumm!“, schoss der Reiter verärgert hervor.
„Aha. Gut, du bist du und ich bin ich. Wenn du eine Antwort haben willst: Wer also bist du?“
Sein Vater ließ sich wie immer nicht aus der Ruhe bringen, was ihm ein zufriedenes Grinsen entlockte. Der kleine Streuner hatte damit begonnen, an seinem Hemd herumzukauen – er ließ ihm seinen Spaß, Hauptsache, er blieb ruhig.
„Treib es nicht zu weit! Mein Name ist Podor, ich bin König Vandans Bote. Bist du also Netrosh, der Seher?“, bellte der Mann.
„Nein.“, kam die feste Antwort.
Dies schien den Frager kurz zu irritieren, dann aber räusperte er sich.
„So? Der da hinten hat etwas anderes behauptet!“
„Mein Name ist Netrosh, aber ich bin kein Seher, sondern Feinschmied. Was treibt Vandans Boten in eine so entlegene Gegend seines Reiches? Wohl kaum die Suche nach einem Handwerker meiner Art, davon dürfte der König genügend haben in Perstan.“
„Feinschmied, soso! Ist das Geschäft eines Sehers nicht einträglich genug?“, lachte jemand.
„Das weiß ich nicht, das musst du schon einen Seher fragen. Wenn du dagegen Instrumente benötigst wie sie ein Heiler benutzt oder wenn du fein gearbeitete …“
„Schluss jetzt, für so etwas habe ich keine Zeit! Du bist Netrosh und die Leute kennen dich als Seher, das genügt. Du wirst mit uns kommen, pack ein Bündel mit dem Nötigsten und …“
Das Grinsen war wie von seinem Gesicht gewischt und er hielt erschrocken den Atem an, während sein Magen schlagartig zu schmerzen begann. Aber sein Vater hatte den Boten schon unterbrochen und er lauschte angestrengt weiter.
„Weshalb?“
„Weshalb was?“
„Weshalb soll ich mit euch kommen? Du musst mir schon einen Grund liefern, wenn ich Heim und Arbeit zurücklassen soll; es wartet ein großer Auftrag auf mich. Und wohin soll ich mitkommen?“
„Ich warne dich! Zum letzten Mal: Pack ein paar Sachen, wenn ich dich nicht an den Händen gefesselt hinter meinem Gaul herschleppen soll! Vandan hat befohlen, alle Seher des Reiches nach Perstan zu bringen, und du bist einer von ihnen, egal was du behauptest. Mehr musst du nicht wissen, du erfährst es noch früh genug.“
Stille. Stille, in der sein Herzschlag laut in seinen Ohren dröhnte und in der die Knabbergeräusche und die Geräusche der kleinen Pfoten ohrenbetäubend laut schienen. Jeden Augenblick mussten die Männer dort unten sie hören!
„Brauchst du eine kleine Anregung? Wie wäre es, wenn wir dir ein …“
„Ich habe verstanden. Und ich bin nicht so dumm und lasse mich misshandeln, der Weg nach Perstan ist weit und anstrengend; steck die Peitsche wieder fort. Ich brauche nur ein paar Augenblicke, ich besitze ohnehin nicht viel.“
„Ob du klug bist, wird sich noch herausstellen!“, knurrte der, der sich Podor genannt hatte.
Er unterdrückte ein Würgen als er sah, wie sein Vater, gefolgt von einem der Männer, wieder ins Haus trat und sofort damit begann, ein kleines Bündel zu packen. Neben ein wenig Kleidung zum Wechseln und dem Wasserschlauch auch ein paar Vorräte, die kaum länger als zwei Tage reichen dürften.
Der Fremde hingegen sah sich ungeniert um, zog geräuschvoll die Nase hoch und meinte dann:
„Nicht viel, hm? Ich sehe alleine zwei riesige Truhen und ein paar teuer aussehende Werkzeuge auf deinem Arbeitstisch. Und da stehen zwei benutzte Teller und Becher … Wer lebt noch hier? Deine Frau? Wo ist sie?“
„Meine Frau ist vor vier Jahren gestorben, ich bin alleine.“, gab sein Vater ruhig zur Antwort. „Doch wenn du es genau wissen willst: Ich hatte Besuch von meinem Bruder aus Lostar, aber er ist gegangen …“
Er biss sich mit aller Kraft auf die Unterlippe und schmeckte Blut – was das Fellknäuel neben seiner Schulter natürlich sofort roch und abzuschlecken versuchte. Onkel Kerwith. Sein Vater log und sagte dennoch die Wahrheit. Erst gestern Abend hatte er beim Abendbrot plötzlich innegehalten, dann bleich und sichtlich bestürzt sein Brotstück sinken lassen und erschüttert die Augen geschlossen. Und auf seine besorgte Frage hin hatte er ihm erklärt, dass Kerwith, sein einziger Bruder, offenbar nicht mehr unter den Lebenden weile. Er sei soeben im Geist bei ihm gewesen … Etwas, das ihn schon lange nicht mehr verwunderte. Viel eigenartiger war es ihm erschienen, dass sein Vater so erschüttert gewesen war wegen dieses Verlustes. Er hatte seinen Onkel nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen, die beiden hatten seit etlichen Jahren kein Wort mehr miteinander …
„Bist du bald fertig?“
„Angesichts der Tatsache, wie lange wir nach Perstan unterwegs sein werden, legst du eine auffallende Eile an den Tag. Aber ja, ich bin fertig. Ich möchte lediglich meinen Nachbarn noch bitten, für die Dauer meiner Abwesenheit nach dem Haus zu sehen und einen Außenriegel anzufertigen.“
„Zeitverschwendung. Aber meinetwegen.“
Zeitverschwendung? Er presste die Handfläche mit aller Kraft auf seinen Mund, um nicht aufzuschreien. Durch den Schlitz im Boden musste er tatenlos zusehen, wie sein Vater hinter dem Mann her zur Tür marschierte. Und erst im allerletzten Augenblick, kurz bevor er die Haustür hinter sich zuzog, warf er einen Blick nach oben und sah direkt in seine Augen.
Ein Blick, der ihm verriet, was er zu diesem Zeitpunkt allenfalls ahnen konnte.
*
Hergath, fünfzehn Jahre später…
„Setz dich, Vilis, und lass deinen Bruder in Frieden! Und du lass deine Finger aus der Schüssel, wenn sie dir lieb sind, Trigus, du bist ein schlechtes Vorbild für Vilis! Sherea? Bring noch einen Krug Wasser mit, der eine wird ohnehin nicht reichen.“
Ich verbrannte mir fast die Finger, als ich nach dem heißen Süßbrot griff und warf rasch ein sauberes Tuch darüber, um es gefahrlos mitsamt Wasserkrug zum Tisch tragen zu können. Bis auf mich und Mutter saßen alle schon um den großen Tisch herum und warteten darauf, dass das selten reichhaltige Mahl beginnen konnte.
„Das obere Südfeld kann wie das daneben schon abgeerntet werden und wir sollten möglichst noch heute damit beginnen, das Gras auf den Heuwiesen zu schneiden.“, hörte ich Vater sagen und verkniff mir ein Schmunzeln, als mein jüngster, eben einmal vier Jahre alter Bruder Vilis versuchte, Vater davon zu überzeugen, dass er mitkommen und helfen wolle. Mit seiner Geburt hatte niemand mehr gerechnet und so war er allen wie ein überraschendes Wunder erschienen.
„Ich kann schon helfen, Vater! Bitte, nimm mich mit!“, bettelte er zuletzt.
„Wir werden sehen.“, mischte Mutter sich ein, nahm neben ihm Platz und deutete streng, er solle jetzt Ruhe geben. „Heute ist Shereas Jahrestag und sie hat sich besondere Mühe mit dem Essen gegeben, also sollten wir beginnen. Sherea? Nach dem Essen wartet draußen ein Geschenk auf dich.“, lächelte sie leise.
„Ein Geschenk? Was ist es?“, rutschte ich neben Ulluf und Trigus auf die Bank.
„Nach dem Essen, du wirst es erwarten können!“, zog der mich spielerisch an meinem langen Zopf.
„Das sehe ich ähnlich. Fangt an, bevor der Eintopf kalt und das Mus warm wird.“
Innerhalb weniger Augenblicke herrschte einmütiges Schweigen. Hungrig stürzten sich alle auf die sämige Rahmsuppe, in der sich heute jede Menge dicker Fleischbrocken tummelten. Und auch die kleinen hellen Fladenbrote dazu wurden rasch weniger. Bei insgesamt sieben Personen leerte sich unser Tisch jeden Tag ohnehin sehr schnell, aber heute schien es, als ob alle miteinander wetteifern wollten. Zuletzt blieb nicht einmal etwas von dem warmen Süßbrot mit den eingebackenen Beeren und dem Apfelmus, das ich erst gestern vorbereitet und bis vorhin im Kühlkeller aufbewahrt hatte, übrig.
„Du solltest jeden Tag Jahrestag haben, Schwesterchen!“, seufzte Trigus und schob seinen Teller von sich. „Selten einmal schmeckt es derart gut, wenn du gekocht hast!“
„Nimm dich in acht, sonst bekommst du beim nächsten Mal nichts von der süßen Nachspeise ab!“, konterte ich und schob den letzten Löffel Mus in meinen Mund. „Überhaupt: Wo ist deine Gabe zu meinem Jahrestag, hm?“
„Meine Gabe? Ganz schön frech, etwas zu fordern, Schwesterchen! Aber meine Gabe ließ sich leider nicht irgendwo abstellen oder hereintragen.“
Ich hob überrascht die Augenbrauen.
„Du hast tatsächlich ein Geschenk für mich? Ich wollte nicht … So war meine Frage nicht gemeint, du solltest nicht …“
„Ganz ruhig!“, grinste er und erhob sich. „Und ich bin ohnehin nicht alleine dafür verantwortlich, Ulluf und Inis haben dabei geholfen. Vilis ebenfalls, er war besonders fleißig.“
Vilis grinste breit und zappelte ungeduldig herum, bis Mutter ihn mahnend ansah.
„Was ist es? Spannt mich nicht so lange auf die Folter!“, lächelte ich und klemmte meine Unterlippe zwischen die Zähne.
„Erst unsere Gabe, dann die eure! Komm, lass uns nach draußen gehen!“, schmunzelte Vater und zog mich mit sich hoch.
„Was ist es denn?“, drängte ich.
„Du wirst es ja sehen, sei nicht so ungeduldig!“
Mit einem leisen Stöhnen folgte ich ihm nach draußen, dicht gefolgt von meinen Geschwistern. Aber erst als Mutter ebenfalls draußen angelangt war, nickte Vater, wandte den Kopf und stieß einen lauten Pfiff aus.
„Was …“, begann ich schon meine erneute Frage, dann aber hielt ich aufgeregt den Atem an.
Das sich nähernde Geräusch war unverkennbar: Hufe, die auf hartem, trockenem Boden in langsamen Schritt näher kamen. Und nur wenige Augenblicke später bog Mestret, unser Großknecht, mit einer jungen, wunderschönen Stute um die Ecke der Scheune, gefolgt von Risita, der Magd, die eine Decke über dem Arm trug.
Das Fell des Tieres war von einem rötlichen Gold und nur eine lange, schmale Blesse oberhalb der Nüstern war von einem reinen Weiß. Dunkelbraune, warme Augen sahen mich forschend an und als ich mich ihr stumm und langsam näherte, ihr eine Hand vor das samtweiche Maul hielt, schnoberte sie mich neugierig ab und stupste mich dann fragend mit der Schnauze an.
„Ein Pferd?“, fragte ich ungläubig.
„Eine junge Stute, ja. Sie ist bereits zugeritten und besitzt ein lammfrommes Gemüt, ich habe mich selbst davon überzeugt. Alles Gute zum Jahrestag, Sherea.“
Vater war neben mich getreten und strich dem Tier mit der Hand über den langen, schlanken Hals.
„Sie ist bildschön! Sie ist bildschön!“, flüsterte ich und sah zu ihm hoch.
„Es wurde Zeit, dass du dein eigenes Tier bekommst!“, hörte ich Mutter, die mit meinen Geschwistern ebenfalls herangetreten war. „Du bist jetzt eine erwachsene Frau, Sherea. Und wir waren der Ansicht, dass es dir gefallen würde, ein …“
„Das tut es! O ja, das tut es! Es ist … Danke! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll! Ich hatte mit einem neuen Kleid gerechnet oder mit … Ach, ich weiß auch nicht. Aber ein eigenes Pferd? Danke! Danke!“, fiel ich ihnen nacheinander um den Hals, während nun auch die anderen nähertraten und die Stute betrachteten oder streichelten. Und natürlich wollte Vilis noch vor mir auf ihren Rücken, was mein gutmütiger Vater lachend verneinte und ihm die ohnehin immer zerzaust aussehenden Haare noch ein wenig mehr verstrubbelte.
„Auch von uns alles Gute zum Jahrestag, Sherea.“, kam nun auch Risita näher und reichte mir eine weich aussehende, dunkelrote Decke. „Die ist von uns allen. Wir haben zusammengelegt für die Wolle und Naima und ich haben sie gemeinsam gewebt. Wir hoffen, sie gefällt dir.“
Ich nahm vorsichtig das flauschig aussehende Plaid entgegen. Auch ohne es zuvor gesehen zu haben wusste ich auf den ersten Blick, dass sie hierfür nur die feinste Wolle von ganz besonderen Wollziegen verwendet hatten – ein kleines Vermögen, das ich hier in den Händen hielt.
„Risita, das ist viel zu viel! Versteh mich richtig, sie ist traumhaft“, strich ich über das federleichte Stück und faltete es behutsam auf, um die sorgfältige Arbeit zu betrachten, „und dieses Rot war schon immer meine Lieblingsfarbe, aber das ist viel zu …“
„Dann haben wir uns für das Richtige entschieden!“, lächelte sie. „Wie gesagt, wir haben alle zusammengelegt. Und was uns noch fehlte, hat dein Vater dazugegeben, also ist es gut so wie es ist.“
Wortlos fiel ich nun auch ihr um den Hals und stammelte ein weiteres Mal meinen Dank, den sie, genau wie Mestret, mit einem verlegenen Lächeln abtaten.
„Wir könnten uns keine besseren Dienstherren wünschen, also … Nun, ich habe zu tun und sollte gehen.“
Ich versuchte erneut, mich bei allen zu bedanken, aber diesmal war es Trigus, der mich einfach am Arm fasste und zurück zu meiner Stute zog.
„Jetzt ist es aber mal genug! Willst du nicht endlich mal aufsitzen? Vorerst wird dein alter Sattel genügen müssen, aber wie ich dich kenne …“ drückte er mir einen kleinen, längst schon mürben Apfel in die Hand.
Ich grinste ihn breit an, schob den Apfel in die Tasche meines Kleides und legte der ein wenig neidisch aussehenden Inis die kostbare Decke in den Arm. Dann trat ich an die Stute heran, um ihr noch einmal ein paar ruhige und beruhigende Worte zuzuflüstern, über den Kopf und Hals zu streicheln und dann mit einem Schwung auf ihren Rücken zu steigen.
Ich wusste genau, dass Mutter es nicht gerne sah, wenn ich ohne Sattel auf einem der Pferde saß und sie verzog auch jetzt wieder das Gesicht, aber als Vater ihr schmunzelnd einen Arm um die Schultern legte, seufzte sie nur leise und nickte dann mit einem etwas schiefen Lächeln ebenfalls.
„Bleib nicht zu lange, hörst du? Jahrestag oder nicht, es wartet heute Nachmittag noch Arbeit auf dich!“, meinte sie noch, aber dann hatte Mestret mir schon die Zügel gereicht …
„Du bist eine Schönheit, weißt du das?“, flüsterte ich ihr leise ins Ohr, als wir am Bach angelangt waren. Mein Vater hatte recht behalten, sie war eine folgsame, ruhige und sichtlich ausgeglichene Stute und sie gehorchte auf den leisesten Zug am Zügel und den kleinsten Schenkeldruck. Unser Ritt, der uns erst eine ganze Weile zwischen unseren Feldern hindurch und dann quer durch den Wald geführt hatte, war ein einziges Glücksgefühl gewesen. Keines der Tiere, auf deren Rücken ich schon seit frühester Kindheit gesessen hatte, war mit ihr vergleichbar und als sie den langen, schlanken Hals jetzt zum Wasser hinunterbeugte und zu saufen begann, wusste ich, welchen Namen sie bekommen musste.
„Harbis! Du bist Harbis, die Herbstgöttin! Denn du erinnerst mich in jedem Augenblick an die schönen, warmen und bunten Herbsttage hier in und um unser Land. Harbis … Gefällt dir dein Name?“, lächelte ich, als sie den Kopf hob, um mich beim Klang meiner Stimme kurz anzusehen und dann weiter zu saufen.
Ich ließ ihr sicher noch eine Viertelstunde Zeit, auch um etwas von dem frischen Gras hier auf der Lichtung zu fressen, während ich mich fast die ganze Zeit leise mir ihr unterhielt und immer wieder einmal ihren Namen einflocht. Und als ich sie zuletzt beim Namen rief und mit dem kleinen Apfel lockte, kam sie sofort zu mir herüber und nahm vorsichtig die Leckerei von meiner Hand.
„Ich glaube, ich weiß gar nicht, wie viel Glück ich habe, oder?“, flüsterte ich und wartete, bis sie den Apfel verspeist hatte. „Aber Jahrestag oder nicht, jetzt müssen wir zurück, es wartet Arbeit auf mich!“
Mestret nahm die Stute entgegen, als ich auf den Hof ritt und den Stall ansteuerte.
„Ein wirklich schönes Tier.“, meinte er und klopfte ihr den Hals.
„Lass mich raten: Du warst eingeweiht.“, riet ich.
„Natürlich!“, lächelte er breit. „Nicht, dass dein Vater meinen Rat nötig gehabt hätte, er versteht mehr von Pferden als jeder andere, den ich kenne, aber er hat mich dennoch zum Kauf mitgenommen. Fast wäre es ihre ältere Schwester geworden, sie sieht bis auf die Blesse genauso aus. Aber dann drängte sich mit einem Mal sie hier vor und bis an den Zaun der Koppel, schob ihren Kopf einfach zwischen zwei anderen vor und sah deinen Vater an. Ich glaube, da war es um ihn geschehen. Und nachdem er sich von ihrer Gesundheit, Folgsamkeit und ihrem ruhigen Gemüt überzeugt hatte …“
„Ich bin froh, dass es Harbis geworden ist und keine andere!“, umarmte ich noch einmal den Pferdehals.
„Harbis also, die Herbstgöttin … Passend, würde ich sagen! Ich kümmere mich schon, geh du nur. Ich glaube, da wartet noch eine kleine Überraschung auf dich.“
„Noch eine? Was denn noch? Das ist alles viel zu viel, ich hab das gar nicht verdient …“
„Man wird nur einmal im Leben erwachsen, oder? Jetzt geh schon, ich kümmere mich um Harbis.“
„Danke. Ich komme später noch einmal und sehe nach ihr.“
„Tu das. Gerade in den ersten Tagen solltest du viel Zeit mit ihr verbringen.“
„Das werde ich, glaub mir!“
Als ich ins Haus trat, war niemand zu sehen. Ich hörte jedoch Mutter mit jemandem in der Küche werkeln und nutzte dort die Gelegenheit, nun auch Naima zu danken. Sie war wieder bei ihrem Vater gewesen, dem es in letzter Zeit nicht gut ging. Sein Häuschen lag etwa zwei Stunden Fußweg von hier an der Grenze zu den Ländereien des fürstlichen Gutes. Er war verwitwet und sie seine einzige Tochter; Mutter und Vater sahen daher großzügig darüber hinweg, dass sie in jüngster Vergangenheit hin und wieder auch nachts dortgeblieben war und so manche Arbeit auch einmal liegenblieb oder länger dauerte. Heute aber schien sie erleichtert und als ich nachfragte, nickte sie lächelnd.
„Es geht ihm besser, dem Himmel sei Dank. Die alte Wesgeda war da und sie meinte, dass er zwar noch wenigstens ein, zwei Wochen Ruhe brauche oder zumindest im Haus bleiben und nicht arbeiten solle, aber er hat das schlimmste Fieber überstanden. Jetzt päppeln wir ihn wieder auf.“
Mutter hatte schweigend unserer Unterhaltung zugehört und währenddessen weiter die saftigen Kirschen entkernt. Ihre Finger waren längst dunkel verfärbt und auch jetzt unterbrach sie diese Tätigkeit nicht, als sie sich einmischte.
„Du solltest ihn, sobald er transportfähig ist, zu uns auf den Hof holen. Seine Arbeit im Wasser ist seiner Gesundheit nicht sonderlich zuträglich und hier werden bald Helfer auf dem Feld benötigt. Hier hättest du ihn überdies besser im Auge und falls ihm die Feldarbeit zu schwer ist, findet sich sicher eine andere Arbeit für ihn. Der Schuppen muss ausgebessert werden, bevor der Herbst kommt, der Hühnerstall fällt sicher auch beim ersten Sturm auseinander – alles Dinge, zu denen die Männer gerade zu dieser Jahreszeit nicht kommen, weil sie alle auf den Feldern sind. Frag ihn. Und dann hol ihn her, alles ist besser, als ständig die Fischreusen und Netze des Fürsten zu kontrollieren und seine Weiher vom Schlamm zu befreien. Da holt er sich noch den Tod, er soll es jüngeren Männern überlassen.“
„Da dürfte Fürst Medoth ein Wort mitzureden haben, Herrin, fürchte ich!“
„Dein Herr hat letzte Woche schon mit ihm gesprochen und ihm einen jungen Mann als Ersatz vorgestellt; er ist einverstanden. Wenn dein Vater also ebenfalls einverstanden ist …“
Ich klemmte lächelnd die Unterlippe zwischen die Zähne und huschte hinaus, als Naima damit begann, sich wortreich zu bedanken.
„Unsinn, wir brauchen noch jemanden hier auf dem Hof … Sherea? Verschwinde nicht einfach, sondern geh nach oben auf den Dachboden und hol die Körbe herunter. Dieses Jahr wird es viele Äpfel geben. Die Spätäpfel müssen geerntet und auf den Markt gebracht werden. Und beeil dich ein bisschen, der halbe Nachmittag ist schon dahin!“
„Natürlich … Weißt du, wo die anderen alle sind?“
„Die anderen sind fleißig, was sonst?! Hol die Körbe, Risita soll gemeinsam mit dir mit dem Pflücken beginnen, alles andere muss warten.“, kam die strenge Antwort.
„Ja, Mutter.“, erwiderte ich und rannte nur Augenblicke später schon die steile Treppe hinauf.
Die letzten beiden Stufen vor der Tür zum Dachboden knarrten wie immer ein wenig, doch in meiner Eile entging mir im ersten Moment, dass die ewig quietschende Tür vollkommen geräuschlos zu öffnen war. Und ich hielt erst ruckartig inne, als ich mich nach rechts wandte, wo ich die Erntekörbe aufgestapelt stehen wusste.
Vor mir erhob sich eine Wand, die dort nicht hingehörte und eine zweite Tür, die einen Spalt breit offen stand. Das Holz von beidem, Tür und Wand, war noch hell und roch frisch, hatte längst noch nicht die dunkle Verfärbung des restlichen Dachbodens angenommen. Und als ich nun nähertrat und die Tür weit aufstieß, rutschte mir ein leiser Aufschrei heraus.
„Ich sagte doch, dass wir es nicht hätten irgendwo abstellen oder hereinholen können!“, grinste Trigus breit und sprang auf. Bis zu meinem Eintritt hatte er, beide Arme faul hinter dem Kopf verschränkt, auf meinem Bett gelegen.
Meinem Bett! Mein Bett, mein Kasten, meine Truhe, der kleine Tisch vor dem Fenster im Giebel, der Hocker, Spiegel und sogar Waschschüssel und Krug … Der halbe Dachboden war leergeräumt, von Staub und Spinnweben befreit, mit hellem Holz verkleidet, das Fenster geputzt und der Holzboden blankgescheuert worden. Sogar ein neuer, wollener Webteppich lag dort; sie hatten alles in der Zeit, in der ich mit Harbis unterwegs gewesen war, hier heraufgeschafft.
Ich sah mich mit offen stehendem Mund um und starrte dann ihn sprachlos an.
„Was ist? Hat es meiner vorlauten kleinen Schwester tatsächlich einmal die Sprache verschlagen? Ich habe keine Lust, das alles wieder nach unten zu schleppen, also solltest du tief Luft holen und mir sagen, dass es dir gefällt. Wir haben alle neben der üblichen Arbeit schwer geschuftet in den letzten Wochen, konnten immer nur daran arbeiten, wenn du garantiert nichts davon mitbekommen würdest und wir haben ständig gebangt, dass du vorzeitig auf den Dachboden steigen könntest. Also solltest du wenigstens …“
Mit einem kleinen Laut sprang ich ihm um den Hals – was ihn diesmal einen Schritt nach hinten torkeln ließ.
„Uff! Langsam! Es gefällt dir also? Na, schon gut, beruhige dich mal wieder, ja? Das ist, wie schon gesagt, nicht alleine mein Werk, alle haben mit angefasst. Und sogar Vilis hat es geschafft und diesmal kein Sterbenswort verraten. Ich hatte diesbezüglich die ärgsten Befürchtungen, aber … Es gefällt dir!“
„Ob es … Ja! Ja! Trigus, meine eigene Kammer! Ich muss mir nicht mehr mit Inis die Kammer teilen und mir abends ihre ständigen Schwärmereien von diesem schwarzhaarigen Gertet oder dem ach so bewundernswürdigen braunhaarigen Pogers, dem Sohn des Küfers, anhören … Wer ist auf diese Idee gekommen?“
„Na wer wohl? Ich, wer sonst?“, lachte er und schob mich von sich. „Vater und die anderen wären gerne dabei gewesen, um zu sehen, wie du dich freust, aber Mutter hat Inis vorhin mit einem Auftrag zu den Pächtern geschickt und Vater, Ulluf und Vilis sind schon aufs Feld, sie konnten nicht länger warten. Nicht jeder lebt so träge in den Tag wie du, weißt du!“, ärgerte er mich und ich verpasste ihm prompt einen Stoß vor die Brust.
„Eine eigene Kammer …“ seufzte ich dann überglücklich und drehte mich einmal um mich selbst.
„Richtig. Glaubst du, Inis hätte sich so ruhig damit abgefunden, dass du jetzt ein eigenes Pferd besitzt und sie nicht, wenn sie nicht ebenfalls hiervon profitieren würde? Wirklich zufrieden war sie erst, als Vater ihr versprach, dass auch sie an ihrem zwanzigsten Jahrestag ein eigenes Pferd bekommen werde. Aber nimm es ihr nicht übel, Inis ist eben Inis, sie meint es nicht so.“
„Ich weiß. Ich nehme es ihr nicht übel, glaub mir. Ich bin mehr als reich beschenkt … Danke! Danke für all das!“
„Ich finde, es reicht mit deinem Dank. Und ich muss jetzt endlich los, ich soll mit Mestret ebenfalls bei der Heumahd helfen. Das trockene Wetter müssen wir ausnutzen. Bist du glücklich?“
„Ob ich … Trigus, ich könnte platzen vor Glück! Das hier ist alles so … Ich weiß gar nicht, wohin mit dem ganzen Glück!“
„Gut.“, lächelte er und drückte kurz meinen Arm. „Für meine kleine Schwester ist nichts gut genug, finde ich. Und irgendwie finde ich es fast ein wenig traurig, dass du jetzt erwachsen bist.“
„Wieso?“, hob ich beide Augenbrauen. „Es hat sich doch nichts geändert!“
„Hm … Vordergründig vielleicht nicht, aber dennoch!“
„Was ist? Was hast du?“
„Nichts. Vermutlich liegt es wirklich nur daran, dass mir auf einmal bewusst geworden ist, dass die Dinge sich ändern. Mir graut es schon vor dem Tag, an dem du einen Mann kennenlernst und mit ihm mit und von hier fortgehst. Und ich glaube, ich darf dich jetzt nicht mehr so oft ärgern, du bist jetzt … na ja, erwachsen eben!“
„Wenn ich … Bis ich … Abgesehen davon, dass die meisten Frauen in meinem Alter längst vermählt sind und schon ein oder zwei Kinder haben: Ich glaube, es gibt auf der Welt keinen Mann, der wie Vater wäre oder wie du oder der euch überhaupt das Wasser reichen könnte! Und mit weniger als Mutter hat, könnte ich mich niemals zufriedengeben! Ich glaube nun mal nicht, dass es einen gibt, der sich damit abfinden würde, dass ich meine Rechte und meine Freiheit haben will. Ich werde daher vermutlich alt und grau werden und noch immer nach einem solchen Mann suchen! Und überhaupt: Ich weiß nicht genau, ob das etwas ist, worüber ich mit dir reden sollte: Männer!“, wand ich mich ein wenig und sah verlegen zu ihm hoch. „Bis dahin wird noch viel Zeit vergehen und nicht mal du oder Ulluf habt bisher eine Frau gefunden.“
Trigus war genau wie Ulluf älter als ich, aber aus einem unerfindlichen Grund stand er mir am nächsten von all meinen Geschwistern. Nicht, dass ich die anderen weniger liebte, im Gegenteil, aber er war derjenige, dem ich mich am ähnlichsten fühlte – innerlich und äußerlich. Nur wir waren blond wie Vater und schon immer waren wir diejenigen, die unzertrennlich schienen, daran hatte sich bis zum heutigen Tag nichts geändert. Das eigenartige Gefühl in meiner Magengegend verstärkte sich noch, als er jetzt meinte:
„Manchmal geht so etwas schneller, als du glaubst! Ich möchte nur, dass du weißt, dass ich immer für dich da bin und du mit allem zu mir kommen kannst. Mir ist klar, dass es manches gibt, worüber du lieber mit Mutter oder einer Freundin sprechen möchtest, ganz sicher auch über Männer, aber es gibt nichts, was du mir nicht sagen kannst. Ich möchte dich nur beschützen und ich will nur, dass du glücklich wirst. Du bist nun mal meine kleine Schwester und das wirst du noch sein, wenn du eines Tages Siebzig bist.“ Er grinste und fasste nach meinem Zopf. „Dann werde ich dich an den grauen Haaren ziehen und dich an dieses Gespräch heute erinnern.“
„Trigus? Ist alles in Ordnung?“, fragte ich besorgt.
„Natürlich, ich bin heute nur ein bisschen rührselig. So, ich muss los, sonst werden wir heute nicht mehr fertig. Und wenn du die Körbe suchst, die stehen längst auf der Obstwiese! Bis heute Abend!“
Seufzend sah ich ihm nach, drehte mich seufzend noch einmal um mich selbst und verließ dann seufzend mein neues Zimmer, um meiner Arbeit nachzugehen.
Nicht jedoch, ohne mich zuvor noch einmal mit einer Umarmung bei meiner Mutter zu bedanken.
*
Er schoss schweißgebadet hoch und keuchte laut auf. Die Traumbilder, die ihn wie so oft in letzter Zeit aus dem Schlaf gerissen hatten, verblassten nur langsam und wie jedes Mal legte Streuner auch jetzt seinen zotteligen Kopf mit einem leisen Winseln auf seine Beine und verdrehte die Augen, um seinen Blick zu suchen.
„Schon gut, Junge, alles in Ordnung.“, kraulte er ihm ein wenig geistesabwesend den Nacken und warf dann die Decke fort, um aus dem Fenster der winzigen Kammer zu blicken, die er für ein paar Münzen gemietet hatte.
Die Dunkelheit war heute nahezu undurchdringlich; nicht nur, weil Neumond war, sondern auch, weil dicke Wolken die Sterne verdeckten. Sie brachten keinen Regen, dafür zogen sie ohnehin zu schnell vorüber bei diesem Wind, aber das war auch gut so. Die Ernte war überall voll im Gange und die Bauern freute es daher, Getreide und Heu trocken in Scheune und Tenne zu bringen.
Er erhob sich im fahlen Schein des Talglichts, goss etwas von dem kalten Wasser in die Schüssel und warf sich ein paar Hände voll ins Gesicht und über den nackten Oberkörper, dann trocknete er sich ab und holte tief Luft.
Seit Wochen schon verfolgte ihn immer wieder das gleiche Bild in seinen Träumen: Sein Vater, der von Vandans Boten mitgenommen wurde, dann jedoch davon, wie er zusammen mit vielen anderen – Männern und Frauen – in einem großen Raum stand, in dem eisige Stille herrschte. Bis jemand zu sprechen begann, den er nicht sehen konnte.
Immer und immer wieder der gleiche Traum, der stets damit endete, dass jemand seinem Vater mit einem Schwert den Kopf vom Körper trennte.
Sein Hund saß längst aufrecht auf dem Bett und bewegte die kurze Rute aufgeregt hin und her, also holte er noch einmal tief Luft und ließ sich neben ihm nieder.
„Ganz ruhig, Junge, es war nur ein Traum. Sehen wir zu, dass wir noch ein paar Stunden Schlaf bekommen. Und wer weiß: Vielleicht haben wir morgen Glück und jemand nimmt uns ein Stück des Weges auf seinem Wagen mit. Los, rutsch ein wenig, das ist immerhin eigentlich mein Lager!“, schob er den zugelaufenen Vierbeiner zur Seite.
„Der Himmel alleine weiß, wie ihr mich immer findet!“, seufzte er und zog die fadenscheinige Decke wieder über seinen Bauch. Und lachte leise, als Streuner sich sofort wieder an ihn heran robbte und seinen Zottelkopf auf seine Brust legte.
„Und der Himmel alleine weiß, wie ich es ohne einen wie euch aushalten soll! Schnarch wenigstens nicht so laut, wenn du schon in meinem Bett schlafen darfst, verstanden?“
Ein eigenartiges Schnauben war die einzige Antwort und mit einem leisen Lächeln schob er seinen rechten Arm hinter seinen Kopf, um die Augen noch einmal zu schließen.
Für heute Nacht war dies erfahrungsgemäß das einzige Mal, dass er von seinem Vater träumen würde. Und morgen und übermorgen standen die letzten beiden Tagesmärsche an.
Er war schon sehr gespannt auf diesen Lerfan.
Auf dem großen Platz herrschte längst reges Treiben und er verlangsamte seine Schritte, um sich aufmerksam umzusehen. Heute war kein Markttag, aber er konnte gleich fünf mehr oder weniger große Fuhrwerke entdecken, die irgendwelche Ladung an die umliegenden Gasthäuser und Geschäfte lieferten.
Sein Magen knurrte vernehmlich, aber sein Geld wollte er wie üblich nicht für Essen ausgeben. Solange er nicht wusste, ob sich hier nicht wieder die Gelegenheit bieten würde, gegen Handlangertätigkeiten eine Mahlzeit zu bekommen, würde er sich auch weiterhin die Münzen lieber sparen.
Sein Blick blieb an einem Mann hängen, der eine ganze Ladung schwerer Fässer von seinem Wagen und zur Kelleröffnung eines Wirtshauses zu rollen hatte, dort jedoch jetzt stand und sich schnaufend den Schweiß von der Stirn wischte. Dann begann er damit, das nächste Fass vom Wagen dorthin zu rollen. Er war stämmig und kräftig gebaut, aber er war alleine und schon jetzt war sein Gesicht hochrot vor Anstrengung. Offenbar sah der in der Tür stehende und soeben verschwindende Wirt nicht ein, weshalb er ihm helfen sollte, und er beschloss, sein Glück bei diesem Fuhrmann zu versuchen.
„Kannst du Hilfe brauchen?“, deutete er im Näherkommen und blieb stehen, als der Mann ebenfalls schnaufend innehielt.
„Hilfe? Ja. Kommt aber darauf an, was du als Gegenleistung haben willst. Geld habe ich keins.“
„Wie wäre es dann mit einer geteilten Mahlzeit? Dein Vorratsbeutel scheint dick genug für zwei. Oder mit einer Mitfahrgelegenheit. In welche Richtung fährst du von hier aus?“
„Zurück nach Hesget, in diese Richtung.“, deutete sein Gegenüber mit dem Daumen über die Schulter und bestieg die Ladefläche ein weiteres Mal, um das nächste Fass in Angriff zu nehmen.
„Falsche Richtung. Also gegen eine Mahlzeit.“
„Meinetwegen. Komm rauf, ich habe keine Zeit zu vertrödeln. Der Wirt ist wütend, weil er schon gestern mit der Lieferung gerechnet hat. Und sag deinem Köter, er soll mir lieber nicht vor die Füße laufen …“
Er nickte, zog rasch seine schwere Tasche samt Wasserschlauch von der Schulter und legte sie an der Wand des Wirtshauses ab, deutete dem Streuner, er solle sich daneben legen und krempelte die Ärmel hoch.
„Du hast es gehört, Junge! Bleib da sitzen und pass in der Zeit auf meine Sachen auf. Nicht, dass da etwas Wertvolles bei wäre, aber ich möchte ungern nur mit dem, was ich auf dem Leib trage, ankommen. … Dann mal los!“
Die nächste Dreiviertelstunde verbrachte er damit, die restlichen schweren Weinfässer gemeinsam mit dem Fuhrmann vom Wagen und hinunter in den kühlen Keller zu rollen, wo sie ordentlich aufgereiht an einer Wand gelagert werden sollten. Die leeren Fässer bei dieser Gelegenheit wieder nach oben zu schaffen war wesentlich leichter. Nachdem die Ladung sicher auf dem Wagen untergebracht war und die Seitenwände wieder hochgeklappt und befestigt waren, nutzte er die wenigen Augenblicke, in denen der Fuhrmann die Bezahlung des herbeigerufenen Wirtes kassierte: Er lief zum Dorfbrunnen hinüber, um rasch Gesicht, Arme und Nacken zu waschen und mit den nassen Händen auch durch seine Haare zu fahren.
„Alter Geizkragen!“, hörte er den Fuhrmann grollen und beeilte sich, wieder zu seinem Besitz zu kommen. „Nicht mal ein Bier oder ein Trinkgeld hatte er übrig! Soll er doch ersticken an seinem … Was soll’s! Komm, hilf mir noch, die Pferde zu tränken. Wie heißt du überhaupt, he? Ich bin Trebel und ich könnte einen kräftigen Burschen wie dich gut gebrauchen, denn mein Gehilfe ist seit gestern spurlos verschwunden. Der Grund für die verspätete Lieferung übrigens. Interesse? Der Beruf des Fuhrmanns ist nicht der schlechteste! Ich vermute zumindest, dass du auf der Suche nach Arbeit bist.“
„Ja und nein. Nichts für ungut, aber Fuhrmann ist nichts für mich. Ich suche zwar Arbeit, aber ich habe ein bestimmtes Ziel.“
Gemeinsam schleppten sie nacheinander mehrmals neu befüllte Wassereimer zwischen Brunnen und dem gleich von vier schweren Pferden gezogenen Wagen hin und her und erst, nachdem alle hinreichend Wasser gesoffen hatten, winkte Trebel ab und befestigte die Eimer wieder an der Seite des Wagens.
„Ziel? Welches denn? In die Hesget entgegengesetzte Richtung liegt eine ganze Weile nicht allzu viel… Wohin willst du also?“
„Sagt dir der Name Lerfan etwas? Ihm soll dort irgendwo Land gehören.“
Der noch immer schwitzende Trebel hielt inne und pfiff leise durch die Zähne, die Schnur des in der Tat prall gefüllten Proviantsacks schon in der Hand.
„Lerfan? Wer hier kennt den nicht?! Ihm gehört nicht nur ein bisschen Land, ihm gehört das weit und breit größte Landgut. Hat es, wie man hört, von Fürst Medoth nicht nur gepachtet, sondern gekauft. Und ich kann mir nicht helfen, aber irgendwie siehst du mir nicht wie ein Knecht oder Erntehelfer aus, auch wenn du offensichtlich kräftig zupacken kannst. Gut möglich also, dass er dich nimmt, er braucht immer Leute.“, winkte er ihn neben sich auf den Kutschbock und reichte ihm ein dick mit einer kräftig duftenden Wurst belegtes Brotstück. Dann verzog er zwar unwillig das Gesicht, als er es halb durchriss und Streuner seine Hälfte zuwarf, schwieg jedoch dazu und biss hungrig in seine Ration.
„Genau deshalb will ich mein Glück versuchen. Ich hatte gehofft, eine Mitfahrgelegenheit zu finden, aber wenn nötig gehe ich auch den Rest des Wegs noch zu Fuß.“
„Das sind noch fast zwei Tagesmärsche!“, nuschelte Trebel und sah sich um. „Und keiner von den anderen dürfte in diese Richtung fahren. Aber vielleicht hast du unterwegs Glück.“
„Zwei Tage, das hörte ich. Wo fängt sein Land an?“
„Etwa einen Tagesmarsch von hier. Einen Teil des Landes hat Lerfan verpachtet, aber den größten Teil bewirtschaftet er selbst. Hin und wieder übernehme ich irgendeine Fuhre für ihn.“
„Was weißt du über ihn? Was redet man von ihm?“, fragte er so beiläufig wie möglich und bejahte dankend, als er ein weiteres Brot angeboten bekam, diesmal mit einer fingerdicken Käsescheibe.
„Von Lerfan? Die Leute reden viel und das Wenigste davon trifft normalerweise zu, aber er ist sehr angesehen und hat einen guten Ruf. Sowohl als Dienstherr als auch sonst. Er soll ein gerechter Herr sein, mehr zahlen als die meisten hier – sofern man fleißig und ehrlich ist – und wie man so hört, soll er auch schon mal der einen oder anderen Pächterfamilie in schlechten Zeiten ihren Pachtzins erlassen haben. In Zeiten wie diesen selten genug!“
Lerfan durfte Land verpachten!
„Klingt nach einem guten Herrn!“
Trebel nickte, schob das letzte Stück seines Brotes in den Mund, kaute mit vollen Backen und rülpste nach einem kräftigen Zug aus seiner Kalebasse geräuschvoll.
„Er soll aber auch ein ehemaliger Soldat sein, munkelt man, und er macht mit Leuten, die ihn betrügen, bestehlen oder ihn übers Ohr hauen, kurzen Prozess. Nicht, dass er sie eigenhändig abmurkst, aber er liefert sie gefesselt beim Richter ab und kennt dann keine Nachsicht.“
Er hatte aufgehört zu kauen. Und diesmal gelang es ihm nicht mehr ganz so gut, den Gelassenen oder Neugierigen zu spielen!
„Soldat. Auch unter König Vandan?“
„Er hat sein Gut schon viele Jahre aber was weiß ich? Möglich wäre es!“, zuckte der Fuhrmann beide Schultern, warf dem wartenden Streuner einen forschenden Blick zu und zog seufzend zwei weitere dicke Brote aus dem Sack, erneut mit der kräftigen Wurst belegt.
„Hier, ihr beide seht so aus, als ob ihr es nötiger hättet als ich. Und hier sind auch noch zwei Äpfel, die gibt’s dieses Jahr überall in Massen. Jetzt muss ich allerdings sehen, dass ich weiterkomme. Danke für deine Hilfe, aber hier trennen sich dann unsere Wege. Falls du es dir anders überlegen solltest oder Lerfan dich nicht nimmt: Mein Angebot steht. Frag nach mir, jeder kann dir den Weg zu mir weisen. Und auf halbem Weg zwischen hier und Lerfans Gutshaus kommst du durch ein Dorf. Frag dort nach dem alten Rekkart und sag, ich habe dich an ihn verwiesen. Er lässt dich sicher in seinem Schuppen übernachten und hat eine Mahlzeit für dich übrig, wenn du ihm genau wie mir bei irgendwas mit anpackst. Er hat eine verkrüppelte Hand und ist auf Hilfe angewiesen. Hack ihm Holz für den Winter oder so, dann muss er es nur noch aufstapeln.“
„Danke. Auch für den Rat.“, nickte er, wickelte die Brote für später in ein sauberes Tuch, sprang vom Kutschbock herunter und hob die Hand zum Gruß, als Trebel die Zügel in die Hände nahm und den Bremsbügel löste, um mit einem Schnalzen die Pferde dazu zu bewegen, sich wieder in Bewegung zu setzen.
„Schon gut. Vielleicht laufen wir uns ja nochmal über den Weg.“
„Ja, wer weiß …“
Streuner machte sich voller Begeisterung über den Rest seines Brotes her und nachdem sie die letzten Häuser des Ortes hinter sich gelassen hatten, fing er mit der gleichen Begeisterung immer wieder die von ihm abgebissenen und in die Luft geworfenen Apfelstücke auf.
Lerfan war einmal ein Soldat. Und er brannte darauf zu erfahren, was, wer oder welche besonderen Verdienste aus einem Soldaten einen großen Gutsherrn machen konnten!
*
Harbis‘ Gebiss mahlte hörbar auf der Mohrrübe und als ich ihr zum Abschluss einen der Äpfel reichte, musste ich lachen. Sie hatte die eigenartige Angewohnheit, jedes Mal, wenn sie mir etwas aus der Hand genommen hatte, erst einmal den Kopf auf und ab zu bewegen, so als ob sie sich nickend dafür bedanken wollte.
„Wer hat dir so höfliche Manieren beigebracht, hm? Nein, das war alles, mehr habe ich nicht bei mir. Und jetzt sollte ich auch wieder ins Haus gehen, die anderen warten sicher schon mit dem Abendbrot. Von mir werden ebenfalls gute Manieren erwartet, weißt du?! Morgen reiten wir zu einem unserer Pächter, dann verbringen wir wieder Zeit miteinander, jetzt aber muss ich gehen.“, strich ich ihr ein letztes Mal über das glänzende Fell der Blesse und schob dann rasch die Tür zu ihrer Box hinter mir zu.
Ich würde ganz sicher wieder einmal die Letzte sein, die sich bei Tisch einfand und so rannte ich jetzt eiligst über den Hof. Es dämmerte bereits und das Licht, das durch die Fenster unseres Hauses nach draußen fiel, erinnerte mich daran, dass der Herbst längst näher rückte.
Ich hatte kaum den Schatten des Hauses erreicht, als ich im Augenwinkel eine Bewegung ausmachte. Und ich schrak zusammen, als eine fremde Gestalt in Begleitung eines zotteligen Hundes halb in den Lichtschein trat, dann jedoch stehen blieb.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Streuner? Hierher!“, befahl er, als der Hund schwanzwedelnd näher kam. Er gehorchte, wenn auch erst nach einem kurzen Zögern. Und erst als er neben seinem Besitzer saß, widmete der sich wieder mir.
„Ich möchte zum Herrn dieses Gutes, Lerfan, oder zu dessen Verwalter. Ich bin auf der Suche nach Arbeit und auch wenn es schon spät ist … Ich suche mir allerdings auch irgendwo ein Plätzchen zum Schlafen und komme morgen wieder, ich wollte dich wirklich nicht erschrecken! Und mein Hund tut niemandem etwas.“
„Kann man das auch von seinem Besitzer sagen?“, erwiderte ich, die Hand schon an der Türklinke. „Hier gibt es keinen Verwalter. Wieso sprichst du erst jetzt, am Abend vor?“
„Ich habe einen weiten Weg hinter mir und gelange erst jetzt hier an, aber ich wiederhole: Die Nächte sind noch warm und trocken genug, ich finde schon ein …“
„Nein, schon gut. Warte einfach hier. Und ich habe keine Angst vor Hunden. Wie ist dein Name?“
„Mein Name ist Natian.“
„Dann warte kurz, Natian, ich sage Bescheid.“
Die Tür aufstoßend bemerkte ich, dass er nickend bejahte, dann schob ich sie bis auf einen Spalt wieder zu und huschte in die Küche, wo tatsächlich alle schon um den Tisch saßen und mich wartend ansahen.
„Wo bleibst du? Werde ich es noch erleben, dass du irgendwann einmal pünktlich sein wirst?“, empfing mich Mutter vorwurfsvoll.
„Entschuldigt. Vater? Da draußen ist jemand, der dich sprechen möchte. Sein Name ist Natian und er sucht Arbeit, kommt von weither.“
„Von weither?“, runzelte er die Stirn. „Zu dieser Jahreszeit ist überall Arbeit zu finden, weshalb … Meinetwegen. Hol ihn herein, hören wir uns an, was er zu sagen hat.“, erhob er sich und blieb abwartend stehen.
Ich nickte und machte kehrt, um wenige Augenblicke später den Fremden, der wie angewurzelt an der gleichen Stelle stehen geblieben war, näher zu winken.
„Komm herein. Und bring deinen Hund ruhig mit, sofern er sich weiterhin so gut zu benehmen weiß.“
„Danke. Und ja, das weiß er.“, kam die Antwort und auf einen leisen Befehl trottete er tatsächlich folgsam hinter ihm her.
Ich trat beiseite und ließ beide an mir vorbei in die Diele treten. Er war etwa so groß wie Trigus und außer einer riesigen Tasche trug er nichts bei sich. Sein Hund blieb hechelnd neben ihm stehen und sah erst ihn, dann mich erwartungsvoll an – was mir ein Lächeln entlockte.
„Folge mir, es geht da rein.“, winkte ich ein weiteres Mal und betrat vor ihm die Küche.
Er folgte, verharrte dann jedoch in der Tür und hielt auch mit einer einzigen Geste seinen vierbeinigen Begleiter davon ab, weiterzugehen.
„Verzeiht die Störung, ich ahnte nicht, dass Ihr beim Mahl sitzt. Ich kann durchaus draußen warten, bis Ihr es beendet habt.“, meinte er ein wenig steif.
„Wir haben noch nicht begonnen, also mach dir keine Gedanken. Dein Name ist Natian?“
„Ja. Ich bin auf der Suche nach Arbeit und Ihr … wurdet mir empfohlen.“
„Empfohlen?“ Vaters Augenbrauen ruckten erneut nach oben. „Von wem? Meine Tochter sagte, du kämest von weither und ich wüsste nicht …“
„Eure Tochter! Dann bitte ich um Verzeihung, ich dachte … Ich hätte Euch nicht mit dem Du ansprechen dürfen.“, kam es noch ein wenig steifer. Je länger er uns alle nacheinander musterte, desto verschlossener wirkte er.
„Darauf legt hier niemand Wert, Natian. Keiner unserer Bediensteten oder Pächter spricht uns mit Ihr und Euch an. Wer also hat mich dir empfohlen?“, schob er nun den Stuhl endgültig zurück und trat um Mutters Platz herum mit ernster Miene näher.
„Nun, das hier wird es vielleicht erklären. Das Siegel mag über die Jahre beschädigt worden sein, doch ich habe ihn nicht geöffnet und nicht gelesen. Aber ich soll ihn Euch aushändigen, sofern ich Euch finden würde.“
Er hatte die Tasche von der Schulter genommen, abgestellt und ein wenig umständlich einen durchaus schon etwas gelblich aussehenden Brief herausgezogen, den er Vater nun hinhielt. Offenbar stand nicht einmal dessen Name darauf.
„Euch zu finden war nicht so schwer wie befürchtet. Was auch immer darin steht, ich suche tatsächlich Arbeit, da ich Geld brauche. Vor allem aber suche ich Antworten, die Ihr mir hoffentlich geben könnt.“
Vater hatte den Brief entgegengenommen und das in der Tat beschädigte Wachssiegel betrachtet. Dann musterte er den Fremden stirnrunzelnd.
„Antworten? Ein Wachssiegel, aber kein Siegel? Wer gab dir das? Von wem stammt dieser Brief?“
„Lest ihn. Und dann entscheidet, was sein Inhalt mit Euch und mir zu tun hat. Sofern er überhaupt etwas mit mir zu tun hat. Möglich, dass es nur eine Botschaft ist.“
Die allgemeine Aufmerksamkeit hatte sich längst uns zugewandt und nun sahen alle schweigend und gespannt zu, wie Vater das Siegel endgültig erbrach und das Blatt auseinanderfaltete.
Der Text war, wie ich erkennen konnte, in sauberen, scharfen Lettern abgefasst. Die Zeilen reihten sich dicht an dicht und auch wenn Vater offenbar nicht las, sondern sofort das Ende suchte, weiteten sich seine Augen schlagartig und er sog hörbar die Luft ein.
„Netrosh!“, flüsterte er tonlos. „Ich erkenne seine Handschrift!“
„Richtig. Ihr kanntet ihn also.“
„Kanntet, nicht kennt? Was heißt das?“, ruckte sein Kopf hoch.
„Das heißt, dass er vor fünfzehn Jahren verschwand. Ich war damals knapp elf Jahre alt und musste zusehen, wie … Nun, vielleicht sollten wir die Einzelheiten nicht vor den Ohren Eures kleinen Sohnes und Euren Töchtern erörtern. Man hat ihn … abgeholt.“
Vater wurde bleich, dann senkte er den Kopf und las den Text, während seine Miene von Minute zu Minute bleicher wurde.
„Du bist sein Sohn? Sein Einziger oder hast du noch Geschwister?“
„Ich bin sein einziges Kind.“
„Deine Mutter?“
„Starb als ich noch klein war. Ich habe nur wenige Erinnerungen an sie.“
„Seine Schwester? Sein Bruder?“
In Natians Miene spiegelte sich etwas. Er sah aus, als ob er soeben eine Bestätigung für irgendetwas erhalten habe.
„Mein Onkel starb am Abend, bevor sie meinen Vater holten. Sie folgte ihm vier Jahre später.“
Stumm und erschüttert starrte Vater noch ein paar Augenblicke lang auf den Brief, dann musterte er Natian aufmerksam.
„Du siehst ihm nicht sehr ähnlich, aber du hast seine Augen. Netrosh und ich, wir kannten uns gut. Und ich bedauere zutiefst, dass er … Was immer ihm zugestoßen ist, ich bedauere es zutiefst. Und du hast recht, wir sollten das ein andermal besprechen, jetzt jedoch … Wenn du einverstanden bist, bringen wir dich für heute Nacht in der Unterkunft für die Knechte unter, morgen sehen wir dann weiter. Sei unser Gast.“
„Was immer mein Vater geschrieben hat, ich suche Arbeit und möchte nicht anders als alle anderen behandelt werden! Die Unterkunft eines Helfers genügt mir völlig.“, erwiderte Natian und nahm seine Tasche wieder über die Schulter.
„Du weißt tatsächlich nicht, was darin steht!“, dehnte Vater.
„Nein. Nicht mal andeutungsweise.“
„Dann wirst du in der Tat viele Fragen haben. ... Wie du meinst. Ulluf? Sorg dafür und lass ihm von Risita oder Naima ein gutes, reichliches Mahl bringen.“
„Natürlich. Komm, ich zeige dir den Weg.“
„Morgen, Natian. Ich werde in aller Frühe zwar unterwegs sein – etwas, das ich nicht verschieben kann –, aber ich bin gegen Mittag zurück. Wenn du dich dann hier einfinden würdest …“
„Ich werde kommen. Welche Arbeit teilst du mir zu?“
„Wenn du einen so weiten Weg hinter dir hast, willst du dich nicht erst einmal ausruhen? Es ist …“
„Ich möchte nicht anders als alle anderen behandelt werden!“, konterte er sofort erneut und unterbrach Vater so, fast schon ein wenig rüde.
„Also gut. Wir haben genug Arbeit auf unserem Gut, Mestret wird schon etwas finden, das deinen Fähigkeiten entspricht.“
„Meinen Fähigkeiten … Danke, Herr. Ich werde kommen, sobald Ihr mich rufen lasst.“
„Kein Ihr und kein Euch auf diesem Hof, Natian! Von niemandem! Wir alle sind letztlich gleich, mehr als es scheint.“
Mit einem stummen Kopfneigen verabschiedete er sich und folgte Ulluf dann nach draußen. Sein Hund zögerte erneut kurz und sah mich schwanzwedelnd an, dann jedoch gehorchte er einem leisen Zungenschnalzen und verschwand nach draußen.
„Lerfan?“, meldete Mutter sich nun zum ersten Mal wieder zu Wort.
„Nicht jetzt, Thaina. Fangt ohne mich an, mich werdet ihr entschuldigen müssen, ich … muss über etwas nachdenken!“
Den Brief in der Hand marschierte er an mir vorüber nach draußen und ich warf wie alle anderen Mutter einen fragenden Blick zu. Sie jedoch holte tief Luft, straffte sich und deutete dann energisch, dass es höchste Zeit sei.
„Ihr habt euren Vater gehört! Esst, morgen wird wieder ein anstrengender Tag werden!“
Noch später in meinem Bett wollte mir das eigenartige Verhalten unseres Vaters nicht aus dem Kopf gehen. Und der Fremde noch viel weniger!